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In memoriam: Wolfgang Vogelsang |
12.11.2016 - 19:05 |
Wolfgang Vogelsang ist verstorben. Wir haben einen Giganten verloren.
Nachruf eines Schülers auf einen Lehrer, Gelehrten und Freund.
„Es mag pathetisch klingen und ist doch wahr“, sagte im letzten Herbst Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. „Wir haben einen Giganten verloren.“ Scholz bezog sich auf den kurz zuvor verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt, und es erscheint mir angebracht, seinen Ausspruch respektvoll auf unseren Freund, Wegbegleiter und Wegbereiter Wolfgang Vogelsang zu übertragen, der Zeit seines Lebens trotz aller konservativen Anmutung überzeugter Sozialdemokrat geblieben war. Nun ist auch er von uns gegangen. Die Trauer ist groß.
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.“
– so dichtete einst passend der Altmeister Goethe, dessen Verehrung von Wolfgang auf mich übersprang. Noch immer bin ich fassungslos und tief erschüttert über diesen herben Verlust, der seine Frau, seine Freunde, die Sedanstraße und das Denkertum Wuppertals empfindlich trifft. Die Nachricht selbst erwischte mich völlig unerwartet. Ich schulde und verdanke Wolfgang viel. Bar einer geeigneteren Möglichkeit, die Situation zu durchleben, kann ich nicht anders, als zu diesem Zeitpunkt versuchsweise die Gefühle in eine Sammlung von Worten zu fassen, um diesen großen Lehrmeister nochmals zu würdigen.
Der Unterricht bei ihm hat gemeinsam mit mir eine Generation von Schülern maßgeblich intellektuell geprägt, inspiriert und geformt. Es war ein Unterricht, der in Tiefe und Facettenreichtum seinesgleichen suchte. Die Fächer Deutsch und Philosophie waren bei ihm, wenn wir ehrlich sind, nie ganz voneinander zu trennen – ein echter Mehrwert, wie sich herausstellte, da so mancher Erkenntnisgewinn sich erst durch die quasi multidisziplinäre Herangehensweise erschloss, die im übrigen bei Wolfgang ja nicht bei seinen „Hauptfächern“ endete, sondern in problemloser Eleganz auf Fachgebiete wie die Mathematik, Geschichte oder Biologie hinüberreichte. Legendär bleibt dem Schüler in mir eine Episode vor Augen, in der Wolfgang im Deutschunterricht Relikte einer mathematischen Aufgabe auf der Tafel entdeckte, an der wir als Klasse in der Stunde zuvor beträchtlich gescheitert waren – und zugleich auch der Mathematiklehrer an seiner Aufgabe, uns den Stoff im Ansatz näher zu bringen. Wolfgang betrachtete das kreiderne Geschreibsel, schmunzelte süffisant, wie er es im Angesicht niederer geistiger Herausforderungen gern zu tun pflegte, und löste mitten im Deutschunterricht beides – die komplexe Rechenaufgabe und unser Unverständnis, einfach so, ganz nebenbei.
Dass er als Lehrer uns teils wissbegierigen, teils ignoranten Schülern mit Eloquenz, Logik und dem praktischen Handwerkszeug des bodenständigen Literaturwissenschaftlers zudem von Goethe bis Schiller, von Lessing bis Kleist, von Kafka bis Fontane die Tiefen und Untiefen der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte näherbrachte wie kaum ein anderer, versteht sich von selbst. Niemand beherrschte die Klaviatur pragmatischer Interpretation und philosophischer Abstraktion, zwischen der Analyse stilistischer Mittel und des Weltenbaus übergreifender Erzählmotive besser als er. Und keiner verstand es wie er, die didaktischen Mängel einer Faustdeutung Adornos stilecht und überzeugend zu Gunsten einer logischeren Schlussfolgerung zu demontieren. Der gekonnte Kreidewurf in Richtung des klassischen Klassenstörenfrieds ergänzte seine natürliche Lehrerqualifikation derweil methodisch perfekt. Vor Wolfgang hatte man Respekt, so oder so; er strahlte Kompetenz aus, wo andere blendeten. Er unterrichte mit konstruktiver Strenge, wo andere sich hinter der Gewalt der Noten versteckten. Er glänzte mit einem unbezahlbaren Sinn für Humor, wo andere zum Gähnen motivierten. Er malte Bilder mit Worten, wo andere nur langweilten. Er öffnete den Blick für die Faszination der Lyrik, wo andere vor Videospielen und Actionfilmen kapitulierten. Was er sagte, hatte stets Sinn und Gewicht, sein Rat wirkt nach bis heute. Wer selbst eine Autorität ist, braucht sich nicht auf fremde Autorität zu berufen.
Den Übergang in die Oberstufe, wo manche Lehrer plötzlich mit ihren langjährigen Schülern distanziert fremdelten, gestaltete Wolfgang mit seinem üblichen Positivzynismus: „Wenn jemand Wert darauf legt, dass ich nun ,Sie Arschloch‘ statt ,Du Arschloch‘ sage, kann er es gerne mitteilen“, lautete seine gewinnende und eisbrechende Argumentation. Nicht nur hat mir das Zitat bis heute viel Freude in ehrfürchtiger Weiterverwendung bereitet, auch sagt es viel über Wolfgangs strenges, aber immer faires und offenes Verhältnis zu seinen Schülern aus: Nie ließ er diese fallen, nie versagte er Ihnen eine zweite Chance, oder dritte, oder vierte; er nahm sie jedoch stets in die Pflicht, die Schüler, und das war auch gut so.
Mich plagt bei diesen Zeilen ein tiefer Schmerz, denn ich muss mir selbst den Vorwurf machen und machen lassen, den Kontakt zu Wolfgang zuletzt nicht so eng gehalten zu haben, wie ich es mir wünschen würde. Persönliche Rückschläge, ein Umzug an den Alpenrand und schlicht die Last im Beruf, die fehlende Zeit, natürlich sind dies die Erklärungen, besonders heutzutage. Und doch tut es mir so leid, die Chance verpasst zu haben. „Da steh ich nun, ich armer Tor“, lässt Goethe seinen Faust sagen, doch ich muss anders enden als der alte Dichter, denn immerhin, ich bin schlauer als zuvor – weil ich Wolfgang kennenlernen durfte.
Mit ihm verlässt uns ein echter Humanist, ein belesener Denker, ein treuer Gefährte. Seine Leistungen im Lehramt, in der regionalen Sprachforschung und selbstredend im Ehrenamt der „Alten Penne“ als großer Förderer seiner Wirkungsstätte können nicht genug betont werden. Ohne seinen Unterricht wäre mir der Blick auf viele Facetten und Nuancen der Literatur verwehrt geblieben, und zahllosen Sedanesen der letzten Jahrzehnte dürfte es ähnlich gehen, darum findet er sich auch in der Widmung zweier meiner Bücher. Den sprachgeschichtlichen Unterschied zwischen Schellenbeck und Sternenberg hat er mir zurecht bei dem ein oder anderen gemeinsamen Bier in seiner eisernen Frohnatur um die Ohren gehauen. Und ohne sein Wirken wären endlos viele Schulprojekte niemals realisiert worden. Meine Freunde und Kollegen des Fördervereins werden, so glaube ich fest, dies ganz ähnlich sehen. Wir werden ihn nicht vergessen.
So bleibt mir nur, zum Abschied zu wünschen, dass nicht der Atheist recht behält, sondern die Möglichkeit auf ein Wiedersehen offen bleibt mit diesem schlauen, gewitzten, vielleicht manchmal fordernden, aber immer ehrlichen Giganten – einem beeindruckenden Lehrer, der schlichtweg Menschen wirklich bildete.
Roman Möhlmann, im September 2016
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